Die Hommage nimmt Beuys’ langjährige Beschäftigung mit dem Werk und der Haltung des französischen Komponisten Erik Satie als Ausgangspunkt und Rahmen: 24 Musiker*innen aus unterschiedlichen Sparten, Ländern und Altersgruppen führen nacheinander die »Vexations« von Satie am Flügel auf. Jede*r spielt eine Stunde und wird durch die/den nächste*n Performer*in abgelöst. Nicht nur professionelle Pianist*innen, sondern u.a. auch bildende Künstler*innen, Kurator*innen, Schüler*innen sind dabei.
Die Veranstaltung bildet im Jubiläumsprogramm »beuys 2021. 100 jahre joseph beuys« einen weiteren vielstimmigen Höhepunkt. Zu den Pianist*innen zählen: Heloisa Amaral (Gent), Thomas Bächli (Berlin), Cornelia Blume (Ribnitz-Damgarten), Claudia Chan (Köln), Ulrike Groos (Stuttgart), Hauschka (Düsseldorf), Gordon Kampe (Hamburg), Moena Katsufuji (Köln), Sabine Liebner (München), Marlene Matthes (Mühlheim/Ruhr), Frederike Möller (Düsseldorf), Sun-Young Nam (Darmstadt), José Andrés Navarro Silberstein (Köln), Makiko Nishikaze (Berlin), Oliver Schneller (Düsseldorf), Theo Pauß (Köln), Ying Yu (Essen), Mirela Zhulali (Essen) und Matthias Osterwold selbst.
Musik aus der Zukunft. Eine 24-stündige musikalische Hommage an Joseph Beuys zum 100. Geburtstag, 18. und 19. September 2021, 16 – 16 Uhr, K21, Eintritt frei, es gilt die 3G-Regel: der Nachweis über eine Impfung, eine Genesung oder ein tagesaktuelles negatives Testergebnis müssen vorgelegt werden
Notizen zum Konzert von Matthias Osterwold, künstlerischer Leitung
Joseph Beuys hatte eine starke, eigenwillige Beziehung zur Musik und zu musikalischen Fragestellungen. Zahlreiche seiner Werke enthalten musikalisch-akustisches Material. Die imaginäre, symbolische und physische »Klanglichkeit« der eingesetzten plastischen Elemente – Materialien, Objekte, Gesten, stimmliche, instrumentale Aktionen – spielt eine integrale Rolle. Durch sein gesamtes Werk ziehen sich »musikalische« Werktitel wie etwa »Sibirische Symphonie 1. Satz«, »Erdklavier«, »Infiltration Homogen für Cello«, »Klavier Oxygen« und viele andere. Mit Nam June Paik und Henning Christiansen hat er in diversen Aktionen musikalisch unmittelbar zusammengearbeitet. Recht selten allerdings zitiert oder bezieht sich Beuys auf konkrete Musikwerke anderer. Vermutlich durch seine Klavierlehrerin hatte Beuys schon als Jugendlicher die Musik von Erik Satie kennengelernt, zu einem Zeitpunkt, an dem Satie weitgehend in Vergessenheit geraten war und in Kreisen Neuer Musik nicht viel galt. Er schätzte Satie sehr, ebenso wie er John Cage schätzte, der sich seinerseits immer wieder auf Satie bezog. Beuys eint mit Satie, Cage, Paik, Christiansen und Fluxus-Künstler*innen das Bestreben, einen überkommenen Kunst- und Musikbegriff zugunsten einer erweiterten, die Grenzen der Genres negierenden Vorstellung zu überwinden.
Die 24-stündige Aufführung der enigmatischen Komposition »Vexations« von Erik Satie im K21 versteht sich als Hommage an Beuys’ Aktionskunst und Musikalität. Sie will auch erinnern an das Happening »24 Stunden« in der Wuppertaler Galerie Parnass am 5. Juni 1965, an dem Beuys gemeinsam mit Bazon Brock, Charlotte Moorman, Nam June Paik, Eckart Rahn, Tomas Schmit und Wolf Vostell teilgenommen hatte. Im K21 spielen 24 Pianist*innen »Vexations« jeweils eine Stunde lang – Profis und Amateure, jüngere und ältere, bekannte und weniger bekannte Persönlichkeiten. »Vexations«, was zu deutsch so etwas wie Quälereien oder Schikanen bedeutet, aber auch an das »Vexierbild« als Trug- und Kippbild denken lässt, entstand vermutlich 1893 während der Phase, in der sich Satie dem esoterischen Rosenkreuzer-Orden angeschlossen hatte, wo ihn neben spirituellen Themen auch Numerologie und Zahlenmystik beschäftigten. Das Manuskript wurde erstmals 1949 in der Zeitschrift »Contrepoints« veröffentlicht, wohl auf Anregung von John Cage, der eine Kopie besaß. Éditions Max Eschig publizierte 1969 die Noten zusammen mit zwei weiteren Blättern als »Pages mystiques«. Eine Aufführung zu Lebzeiten von Satie ist nicht bekannt. Wir wissen auch nicht, ob das Werk für eine reale Aufführung gedacht war oder mehr als Konzeptstück, als imaginäre Musik anzusehen ist. […]
John Cage realisierte im September 1963 mit 10 Pianisten in New York die wohl erste vollständige Aufführung in 18:40’ Stunden. Bei der für das Beuys-Jubiläum vorgesehenen Aufführungsdauer von 24 Stunden spielt jeder Pianist das Werk innerhalb einer Stunde 35- mal, bis der nächste Spieler übernimmt. »Très lent«, das Tempo liegt bei M.M. 60–61 ♪ pro Minute, sehr langsam, sodass jeder Ton bzw. Akkord einzeln deutlich als Klang identifizierbar ist, aber doch ein langsam fließender Puls erhalten bleibt. Ein Durchlauf dauert so 1’43’’. Trotz der Individualität der Spieler wird eine möglichst homogene, gleichmäßige Aufführung bei konstantem Tempo und gleichbleibend mittlerer Lautstärke angestrebt. Auf interpretatorische Variationen des gestischen Ausdrucks, der Agogik, der dynamischen Abstufung, der Phrasierung etc. soll verzichtet werden. Es gibt in den Noten keine Legatobögen oder dynamischen Zeichen, also erscheint ein breites Portato mit weichem Anschlag angemessen, um den Klangcharakter gut in Erscheinung zu bringen. Satie war in seiner Musik auf Objektivität, Gemessenheit, Distanz und Verzicht auf Expressivität bedacht. Er war Antiromantiker. Doch ist Erik Satie missverstanden, wenn er lediglich als Komponist betrachtet würde. Ebenso war er ein höchst origineller Schriftsteller, ein begabter Kalligraf, Zeichner und Varietémusiker, und er war – nach eigenem Anspruch wie im Bohème-Milieu seiner vielen Pariser Künstlerfreunde – ein performatives Gesamtkunstwerk, darin Joseph Beuys sicher nicht unähnlich.
Aus: Matthias Osterwold, »Musik aus der Zukunft«, in: beuys 2021. 100 jahre joseph beuys – Eine Bilanz, hg. von Eugen Blume und Catherine Nichols, Göttingen: Steidl, 2021 (erscheint im Herbst 2021)
Eine Veranstaltung im Rahmen von „beuys 2021. 100 jahre joseph beuys“. Ein Projekt des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen in Zusammen-arbeit mit der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf als Träger. Schirmherr des Jubiläumsjahres ist Ministerpräsident Armin Laschet.
Medienpartner der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen: Frankfurter Allgemeine Zeitung
Gefördert durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen