Die 15jährige Margarita aus Berlin ist zum Ferienbesuch bei den Großeltern Selma und Dan in Chicago. Carolin Cousin (23) spielt die 15-jährige Tochter so intensiv und überzeugend, dass Zuschauende sich unwillkürlich fragen, woher diese außerordentlich talentierte 15-Jährige kommt, die da so staksig über die Bühne geht.
Ihr Vater Ari ist Kantor in einer Berliner Synagoge , singt und betet auf hebräisch und ist sehr besorgt darüber, was seine Tochter so macht. Die junge Margarita dagegen ist genervt von den Großeltern und vom amerikanischen Essen dort, etwa der fertigen Nudelsoße aus der Flasche. Die Großeltern haben also die Idee, Margarita soll zu ihrer Mutter nach Jerusalem fliegen. Mutter Marsha hat damals Tochter und Vater in Berlin verlassen. Sie wird jetzt einen Job an der Uni in Jerusalem beginnen.
Regisseurin Sonnenbichler spielt mit den Orts- und Zeit-Ebenen auf einer einzigen kaum veränderten Bühnen-Ebene: Mal ist die linke Seite Chicago mit Oma und Opa, die rechte Seite Jerusalem mit der Mutter, oder auch links Spiekeroog und rechts der Strand von Eilat am Rotem Meer, jeweils an den projizierten Aufschriften im Hintergrund erkennbar. Die Geschichte der Familie blättert sich mal aus der Perspektive des Vaters Ari auf, mal aus der Perspektive und den Erzählungen von Tochter Margarita.
Die Darsteller:innen tragen alle Kostüme mit Fotoaufdrucken der charakteristischen Städte, Margarita mit Berlinfotos, die Mutter mit Fotos aus Jerusalem.
Warten im Airport mit Ziplock-Beuteln
Wenn die junge Margarita von Chicago nach Tel Aviv fliegt (real 14 Stunden etwa), reicht ein Flugzeugsitz auf der Bühne. Sie trifft im Flieger Lior (Abdul Aziz Al Khayat), sie flirten miteinander. Margarita wartet dann am Airport auf ihre Mutter. Weil Mutter Marsha mal wieder zu spät am Flughafen ist, steht die Tochter dort allein, erreicht die Mutter nicht, ruft den Vater an, und eine internationale Hilfe läuft an: Vater Ari besorgt online für die Tochter ein Hotelzimmer in Jerusalem. Die geht allerdings erst mal mit Lior mit, der ihr eine Übernachtung bei sich anbietet.
Später kommt dann doch die Mutter nach Tel Aviv. Cathleen Baumann spielt diese zerfahrene, sprunghafte Mutter Marsha mit allen Facetten der Nervosität und Unkonzentriertheit.
Die Mutter diskutiert mit Lior, der Margarita zu einer Demo gegen die israelische Regierung mitgenommen hat (die großen Proteste gegen Netanjahu vor dem 7. Oktober 2023) , und sie zerstreiten sich. Die pubertäre Margarita ist sauer auf ihre Mutter.
Berlin und Spiekeroog mit Hannah, und auch Eilat und Tel Aviv
Ari trifft in Berlin auf Hannah (wunderbar unsicher und doch spontan: Tabea Bettin), die auf dem Friedhof Weißensee ihren Vater begräbt. Ari trifft Hannah später wieder, sie fahren auf ein Wochenende auf die Insel Spiekeroog, die Ari von früher her kennt.
Hannah macht dabei eine andere jüdische Geschichte deutlich: Ihr Vater hat sich nach der Shoa von Gott und vom Glauben abgewandt. Und das ist für Ari nicht akzeptabel, obwohl oder weil er um seine Geschichte weiß. Die beiden kommen nicht zusammen.
Hannah sagt einmal: „Wir waren ganz normale Juden, mehr Trauma geht nicht.“
Währenddessen sind Mutter Marsha und Margarita auf Reisen in Israel, vornehmlich an Stränden. Aber Tochter Margarita war bisher allenfalls „am Müggelsee“, sie möchte nicht wie die Mutter schnorcheln gehen.
Am Strand von Eilat, dem südlichsten Hafen Israels am Roten Meer, verrät die Mutter ihr großes Familiengeheimnis: Sie ist von katholischem Ursprung und adoptiert. Da die jüdische Abstammung nur über die Mutter folgt, ist die Mutter also keine Jüdin. Und damit ist auch die Tochter Margarita, die in der Pubertät ihre Identität sucht, nicht jüdisch.
Margarita regiert entsprechend: Ich hasse Dich, sagt sie zur Mutter, und verschwindet.
Große Aufregung in der Familie. Der Vater fliegt sofort nach Jerusalem. Und Oma fällt in der Aufregung zu Hause eine Karaffe aus dem Regal auf den Kopf, sie ist schwer verletzt.
Die ganze restliche Familie fliegt also nach Chicago, um Oma Selma beizustehen – und um die verschwundene Margarita zu suchen.
Die taucht dann plötzlich wieder auf, mitten hinein in den Trubel. Streitet sich mit dem Vater. Und sagt ihm schließlich, sie sei ja gar keine Jüdin. Vater Ari will, dass sie zurück nach Berlin kommt. Klar ist, dass der Kantor der Synagoge schon um das „Familiengeheimnis“ wusste.
Großmutter Selma liegt im Koma, Großvater ist dement, aber auch er wartet wie alle darauf, dass Selma wieder aufwacht.
Ankommen oder unterwegs sein
Margarita sitzt schließlich da und sinniert. „Wenn Oma Selma überlebt, fliege ich. Wenn Oma nicht bis Jom Kippur aufwacht, fliege ich. Ich habe eine Wahl.“
Langer Applaus und Jubel für die großartigen Schauspieler:innen, besonders für Cousin, Baumann und Bettin, und für die gelungene Inszenierung von Bernadette Sonnenbichler.
Erläuterungen:
Jom Kippur, der höchste jüdische Feiertag, war 2023 am 24. Und 25. September.
Der Jom Kippur-Krieg begann am 6. Oktober 1973, der mörderische Angriff der Hamas kam am 7. Oktober, 50 Jahre nach dem damaligen Krieg.
Der Roman
Der Roman erschien 2023, gewann mehrere Preise, unter anderem den mit 20.000 Euro dotierten Mara-Cassens-Preis 2023 des Literaturhauses Hamburg. Der Titel bezieht sich auf Psalm 23, in dem von den Gewässern und Flüssen die Rede ist, und den Ari am Beginn des Stücks zitiert.
Die Bühnenfassung der Uraufführung stammt vom Düsseldorfer Dramaturgen David Benjamin Brückel.
Besetzung
Margarita : Caroline Cousin
Avi, ihr Vater: Jaron Löwenberg
Marsha, ihre Mutter: Cathleen Baumann
Selma, ihre Großmutter: Friederike Wagner
Dan, ihr Großvater: Thomas Wittmann
Hannah : Tabea Bettin
Lior: Abdul Aziz Al Khayat
Regie Bernadette Sonnenbichler
Bühne David Hohmann
Kostüm Katrin Wolfermann
Musik Tobias Vethake
Licht Konstantin Sonneson
Dramaturgie Stijn Reinhold
Nächste Termine vor der Sommerpause : Freitag 14. Juni, Do 27. Juni , je 20 Uhr, Kleines Haus