Anna Brandstätter schuf nicht nur das ausgezeichnete Arena-Bühnenbild, in dem sich die selbstbezogenen Figuren um Pi bewegen. Auch die surrealen Kostüme, mit Stola aus Kunststoff-Armen und -Händen, die Reifrock-Hüften aus ominösem Strick, oder dem Pulli aus überdickem Zopfmuster, stammen von ihr.
Zwischen diesen expressionistisch- zeitlosen Ausstattungen und der Arena, die nach Wettkampf und passivem Zuschauen verlangt, spielt sich ein Drama aus Suizid und erschütternder Familiengeschichte ab, begleitet von sehr heutigen Egoismen.
Im Rund verbreitet die Familie Chaos, der Bruder stört Hanna, Pis Freundin, und Minna Wündrich zeigt kurz aufbrausend ihre Kraft und blafft „Ich lese!“.
Hanna will es eigentlich allen recht machen, aber kritisiert Pi auch. Auch Pi ist in der Darstellung von der jungen Blanka Winkler nicht nur die Zurückhaltende, Fragende, sie ist auch die Kraftvolle wenn sie etwa mit Hanna tanzt oder den Bruder anspringt. Sie zeigt Hanna ein Video, in dem sie einen Mann verprügelt – Hanna will gar nicht glauben, dass Pi zugeschlagen hat. „Das hast Du dir doch gewünscht“, so Pi. Aber so hat Hanna das denn doch nicht gemeint.
Der Bruder hat sich verzockt, wünscht sich also, seine Schulden begleichen zu können. Pi gibt ihm das Geld, aber woher es kommt, ist eine furchtbare Wahrheit: Pi hat ihre Organe verkauft.
Und dann der Vater: Er wünscht sich, dass Ewa, die Sandkastenfreundin von Pi, Geld für ein Studium bekommt. In der weiteren Unterhaltung wird klar, der Vater ist pädophil und hat Ewa missbraucht. Wolfgang Michalek gelingt es, diesen schwierigen Part sehr tiefgreifend darzustellen.
Ewa steht außerhalb
Jugendfreundin und Missbrauchsopfer Ewa taucht plötzlich auf – sie ist nicht Teil der Arena im grauen Rund: Ewa (wie immer überzeugend Cennet Rüya Voß) steht außerhalb. Und sie hat ihre Geschichte angenommen, will sie verarbeiten. Ewa ist für die Zukunft, erklärt die Autorin einmal.
Und Ewa ist die einzige, deren Wunsch keinen Egoismus zeigt: „Ich wünsche mir, dass du dich nicht umbringst“, sagt sie.
Aber Pi, benannt nach der Zahl Pi, ist kein Jesus, der für die anderen leidet. Im Dialog mit ihr kommen brutale Wahrheiten über jene hervor, die ihre Wünsche äußern. Das ist entlarvend: Bruder, Mutter, Freundin, Vater – alle verlieren die ausladenden Kostüme und bleiben im Hemd oder Unterhose zurück.
Und Pi zerstört das einzige, was Hanna wirklich eigen ist – ihr Gesicht.
Die Wahrheiten, die die Wünsche der Anderen offenbaren, sind Abbild vom schrecklichen Leben im Falschen.
Hanna zieht die Konsequenz: Jene, die das wahre Ich der anderen aufdeckte, wird an ein Brett gefesselt, Pi wirkt gekreuzigt. Und Hanna schlägt auf sie ein – bis Ewa sich einmischt. Von draußen, von außerhalb der Arena.
„Grüben Sie manchmal. Beschäftigen Sie sich mit Themen? Lassen Sie das….“ sagt versöhnlich Ewa, die der Zukunft zugewandte, zum Publikum.
Blanka Winkler, Minna Wündrich, Wolfgang Michalek – großartige Schauspielerinnen – aber das Erstlingswerk von Lea Ruckpaul will zuviel auf einmal, um über uns und dieses Leben zu erzählen.
Langer Applaus und Jubel für großartige Schauspieler:innen, Regisseurin Sonnenbichler, Kostüme und Bühnenbild.
Exkurs 1:
Erstaunlich, dass noch immer von Selbst-„Mord“ geschrieben und geredet wird. Der Suizid ist ein verdrängtes Thema in unserer Gesellschaft und wird leider immer noch gern in christlich-katholischer Verdammung als abzulehnender „Mord“ bezeichnet.
Karten und Termine unter www.dhaus.de
Lea Ruckpaul (36), engagierte und ausgezeichnete Schauspielerin, geht für die nächste Spielzeit ans Residenztheater München.