Lea Ruckpaul las aus ihrem Roman Bye Bye Lolita im Schauspielhaus

Bye bye Lolita – Lesung Lea Ruckpaul mit Minna Wündrich im Unterhaus

Von Jo Achim Geschke |

ruckpaul wuendrich

Lea Ruckpaul (re.) und Minna Wündrich in „Die Nibelungen. Kriemhilds Rache“ von Friedrich Hebbel, vom 1. Oktober 2021, mit einem Nachspiel von Lea Ruckpaul /Foto © Thomas Rabsch, D Haus

Sie ist berühmt geworden als Zwölfjährige, berühmt als die Lolita mit Lolli und rosa Sonnenbrille aus dem Film von Stanley Kubrick 1962, literarisch als Romanfigur in Vladimir Nabokovs „Lolita“ von 1955. Da beginnt ein Humbert Humbert eine Beziehung zu Dolores, genannt Lolita, 12 Jahre alt. Heute würde ein pädophiler Professor völlig zu Recht sofort angeklagt. Schauspielerin und Autorin Lea Ruckpaul, lange Zeit Teil des Ensembles am Düsseldorfer Schauspielhaus, nähert sich dem Roman Nabokovs mit ihrer eigenen Sichtweise in „Bye Bye Lolita": Dolores / Lolita ist eine erwachsene Frau geworden, die sich befreien will“.

„Ich bin nicht tot. Ich bin durch alle Zeiten gereist. Ich bin alle Frauen geworden und doch keine andere. ... Meine letzte Begegnung mit Humbert Humbert liegt einundzwanzig Jahre zurück. Jahre, in denen ich versucht habe, Dolores zu sein. Aber ich kann Lolita nicht abschütteln. Andere Menschen haben eine chronische Krankheit, mit der sie sich ein Leben lang abmühen, ich habe Humbert Humbert.“ So die Lolita von Ruckpaul.

Lea Ruckpaul las aus ihrem Roman „Bye Bye Lolita“ mit Schauspielerin Minna Wündrich,  moderiert im ausverkauften „Unterhaus“ des Schauspielhauses von Dramaturgin Janine Ortiz.

In Ruckpauls manchmal sehr deftig formuliertem Roman ist Dolores, die ehemalige Lolita, erwachsen, will sich lösen von den Erfahrungen mit einem viel älteren pädophilen Mann und dessen manipulativen Techniken. Bei Nabokov, betont die Autorin, stirb diese angeblich verführerische Lolita, als sie Mutter wird. Bei Ruckpaul geht es weiter mit Lolita, sie will und wird auf eigenen Beinen stehen, ihr Kind großziehen, irgendwo klingt die Angst an, dass Humbert womöglich seine eigene Tochter …

Heute, das wurde bei dieser Lesung sehr deutlich, kann ein solches Werk wie Nabokovs Lolita, das ein obzessives und manipulatives Verhältnis zu einer Zwölf bis 14-jährigen beschreibt,  nicht aus der Täterperspektive geschrieben werden. Es geht dabei eben um Missbrauch, und Missbrauch heißt immer auch: Gewalt zum Zweck der Machtausübung von Männern.  

Die Scham muss das Lager wechseln

Ruckpaul, Wündrich  und Moderatorin Ortiz verwiesen auf den gerade laufenden Prozess in Frankreich: „Die Scham muss das Lager wechseln“ hatte die Französin Gisèle Pélicot  beim Prozess in Avignon formuliert, bei der öffentlichen Verhandlung um ihre vielfache Vergewaltigung, initiiert durch ihren Mann.

Die Täter müssen sich schämen. Missbrauch, soviel wissen wir längst, verursacht Traumata, deren Folgen die Opfer ein Leben lang mit sich ausmachen müssen.  Dass sich Frauen nicht schämen müssten, wissen wir allerdings schon aus den feministischen Diskussionen Ende der 1970er Jahre, „Die Scham ist vorbei“, hieß 1979 ein viel beachtetes Buch von Anja Meulenbelt. Es gab damals eine eigene Reihe feministischer Literatur beim Fischer Verlag.

Dass Lea Ruckpaul sich  dem Roman, der Lolita und dem Humbert aus einer anderen Perspektive nähert, liegt nahe beim heutigen Diskurs.  „Ich ergänze Nabokov“, sagt Ruckpaul einmal. Und sie schreibt, dass sie sich dem Tagebuch Nabokov/ Humbert von rückwärts nähert. Sie rollt diese Geschichte des Nicht-Helden auf, diese Dolores wirft ihn ab, wie überflüssigen Ballast.

Dennoch kam auch in der Diskussion das oft benutzte Ästhetizismus-Argument auf, dass ein literarisches Meisterwerk nicht mit moralischen Maßstäben beurteilt werden könne.

Überholter Ästhetizismus

Es scheint immer noch der Horror konservativer Germanisten: Ein Werk wird unter dem Aspekt heutiger Erkenntnisse und damit auch heutiger Moral beurteilt und verändert, neu geschrieben aus einer heutigen, anderen Perspektive. Die noch Ende der 1960er Jahre präsenten alten Germanisten wären nie auf den Gedanken gekommen, ein ästhetisch hoch gelobtes Werk mal unter dem Aspekt der Moral zu betrachten. Es kann eben nicht nur um Form gehen, es muss durchaus  auch um Inhalte gehen, betonte Wündrich.

Und dass ein Werk wegen seines Inhalts nicht mehr im Kanon auftaucht, ist ja nicht ungewöhnlich.  Sprache ändert sich, und auch der Kanon etwa für Schulen ist heute ein anderer als vor 30 oder gar 50 Jahren, betonte eine Germanistin in der Diskussion. Im Theater wird heute eben nicht mehr Kleists Herrmannschlacht aufgeführt.

Frauen-Rollen

A propos Inhalt: Wie steht es denn mit den Rollen für Frauen, die ja zum größten Teil von Männern geschrieben wurden ? „Wie geht es denn Goethes Gretchen? Man kann ja dieses Gretchen ganz anders beschreiben, ihr mehr Text, mehr Inhalt geben, aber dann ist es ein anderes Stück“, machte Schauspielerin und Aurorin Ruckpaul deutlich. Was hat denn eine Emilia Galotti an Text, was erfahren wird denn von einer Lulu?, hakte auch Minna Wündrich nach. Beide könnten von Kolleginnen erzählen, die mit über 45 Jahren  keine Rollen mehr bekommen.

Eine gelungene Lesung, bei der die Autorin auch über ihre Arbeitsweise berichtete, etwa von den „tausenden“ kommentierenden und verweisenden Zetteln, die sie bei der Lektüre des Originalromans  fertigte.

Bye Bye Lolita
von Lea Ruckpaul
Verlag Voland & Quist GmbH, Berlin und Dresden 2024, 306 Seiten, 26 Euro

ISBN 978-3-86391-422-6

www.voland-quist.de